Ein neues Lifestyle-Hotel im pulsierenden Londoner East End mit orangenen Fahrrädern, äußerst dünnen Wänden, unverputzten Decken und sehr motivierten Mitarbeitern
Ich sitze im Taxi von Heathrow in die Innenstadt. Nachdem wir die grauen Industrievororte verlassen haben und die mir vertrauten Londoner Straßenzüge auftauchen, ist das „Swinging London“-Gefühl sofort wieder da. Ich liebe die Coolness und Vitalität dieser immer noch multikulturellsten Metropole – vor vielen Jahren habe ich hier selbst als Hotelier zwei Häuser geführt. Samuel Jackson drückt meine London-Vibes treffend aus: „When a man is tired of London, he is tired of life.“
Übernachten im Herzen von Londons East End
Mein Domizil ist das noch neue Canopy, das erste britische Haus von Hiltons mittlerweile 12. globaler Eigenmarke. Das 4 Sterne-Hotel im Stadtteil Tower Hill ist die erste reine „Lifestyle“-Marke des Konzerns, die als „natürliche Erweiterung der Nachbarschaft“ jedes der neuen Hotels (es sollen bald 100 weltweit sein) fungieren soll.
Das erste Canopy by Hilton wurde 2016 in Reykjavík eröffnet
Rund um das Hotel ist noch alles Baustelle, die ganze Gegend ist ein Multimillionen-Hotelentwicklungsprojekt, direkt neben dem Canopy liegt auch das Motel One.
Das Hotel ist nur wenige Gehminuten von der U-Bahnstation Liverpool Street entfernt und in der Nähe der Brick Lane, der London Bridge, des Towers und der St. Paul’s Cathedral.
Ich will einchecken und wundere mich das erste Mal: der Rezeptionsbereich ist ein großer offener Raum mit vielen Sitzgelegenheiten, aber der eigentliche Counter ist viel zu klein für die 340 Zimmer – die Menschen stauen sich vor und hinter dem ca. 6m langen Tresen. Das ist nicht hip, sondern nervig.
Die Innenausstattung des Hotels soll die Kultur der historischen Textilindustrie des Viertels wiedergeben, inspiriert von den Seidenwebern, die sich einst hier niederließen. Als Hommage an die zeitgenössische lokale Kunstszene schmücken Werke von Künstlern aus der Nachbarschaft die öffentlichen Bereiche.
Ich schaue mir das Restaurant an. Das Raumdesign gefällt mir, die floralen Muster und gewebten Stoffe an den Wänden strahlen Wärme aus. Das „Penny Square“ ist zum Frühstück und Abendessen geöffnet und bezieht den Großteil der Lebensmittel und Getränke von lokalen Partnern.
Apropos Frühstück: am nächsten Morgen komme ich spät – um viertel vor 10 – zum Frühstück, das ist hier im Haus ein großer Fehler. Die Käsetheke sieht aus wie ein Schlachtfeld. Als einzige Brotsorte gibt es nur noch Weissbrot – dazu einige Süßteilchen. Ich frage freundlich nach Vollkornbrot, das sei alles schon aus für heute. Ich trinke dann nur einen Kaffee. Die Basta-Ansage des Zero-Service-Excellence-Mitarbeiters hallt lange in mir nach.
In meinem Zimmer erinnert mich das Bett an meine Jugend, damals wollte ich immer in einer Hängematte schlafen, nach 5 Minuten Durchhängen merkte ich, dass die Romantik beim Schlafen nicht funktioniert. Um so weicher die Matratze hier ist, um so härter und größer sind die Kissen. Hier hat offenbar niemand probegeschlafen.
Seltsam auch die Decke: unverkleideter Beton. Die Rohre der Sprinkleranlagen sind zu sehen, genau wie die Elektroleitungen der Lampen. Sollte es ein Designelement sein, erschliesst es sich mir nicht.
Zudem sind die Wände leider dünn wie Papier. Ich bin Ohrenzeuge eines heftigen erotischen „Zweikampfs“ im Nebenzimmer, an Schlaf ist erstmal nicht zu denken. Als die Geräusche nebenan abebben kann ich dennoch nicht schlafen und bin genervt: Die Klimaanlage bläst zu laut und ist an der falschen Stelle angebracht, so dass man den kühlen Hauch deutlich spürt. Außerdem stört mich das penetrante rote Licht an der Klimaschaltung.
Neben der Nespressomaschine fällt mir am nächsten Morgen die nachfüllbare Wasserflasche aus Glas auf, die man in der Pantry auf jeder Etage auffüllen kann. Mir persönlich gefällt diese erneuerbare Idee, die pro Jahr sicher Tonnen an Plastikmüll einspart.
Im Badezimmer: guter Wasserdruck in der Dusche, Toilettenartikel von Apvita – die Nachhaltigkeit ist nicht durchgezogen – in einzelnen Plastikfläschchen.
Und was mich stört: das Bad mag für eine Person noch gerade so für einen Kurz-Aufenthalt ausreichend sein, für zwei Personen ist es viel zu klein. Es gibt nur ein Waschbecken, die Ablage ist viel zu schmal.
Am nächsten Tag besuche ich die Londoner Zentrale von Peloton Digital, einem monatlichen Fitness-Abodienst, der es Benutzern ermöglicht, auf iOS und Android-Geräten via App mehr als 8000 Kurse des Unternehmens zu Radfahren, Laufen, Yoga und Meditation zu streamen. Ich bin mir sicher: das ist die Fitness-Zukunft, die für Studios zwar nicht rosig aussieht, dafür aber Hotels enorme Potentiale bietet. Statt pro Hotel für zehntausende Euros modernste riesige Fitnessgeräte anzuschaffen, die dann doch oft ungenutzt rumstehen und wertvollen Platz wegnehmen, könnte man die TV-Zimmertechnik so modernisieren, dass der Gast auf dem Hotelzimmer sein ganz individuelles Fitness-Programm absolvieren kann (https://www.onepeloton.de/). Ich kam darauf, weil dies hier im Hilton angeboten wird, großartig!
Ich besuche zum Ende meines Aufenthaltes die Lobby Bar – hier gibt es heute eine kostenlose Gin-Verkostung – und erfahre, dass es einen solchen kleinen Happy-Hour-Event jeden Abend gibt. Eine gute Idee, die der Bar eine gewisse Stimmung verleiht.
Insgesamt war ich vom Canopy Hotel nicht sonderlich beeindruckt. Für Londoner Verhältnisse ist das Viersterne-Hotel, in guter Lage zu öffentlichen Verkehrsmitteln, zwar eine noch relativ bezahlbare Option, für die in London oft astronomisch teuren Hotels. Andererseits, wenn ich Preis und Leistung abwäge, würde meine Hotel-Wahl sicher auf das Motel One (https://www.motel-one.com/de/) nebenan fallen – hier zahlt man ein Drittel dessen, was das Canopy aufruft.
Der überraschend gute Servicestandard war das Erfreulichste hier. Stets zuvorkommend und meist von Herzen freundlich (abgesehen vom Frühstücksservice). Insbesondere die Frontoffice-Mitarbeiter sind auf Zack, vor allem Tim fällt mir hier positiv auf. Er ist proaktiv und ist ein cooler Typ. Das Personal an der Rezeption ist ausnehmend hilfsbereit, zuvorkommend, weit besser als in vielen anderen Häusern, die ich erlebt habe.
Da passt ein Ausspruch von Designer Philippe Starck, der selbst mehrere Hotels in London eingerichtet hat: „Mir geht es nicht um´s Aussehen der Dinge, sondern um die Gefühle, die sie auslösen.“ In diesem Sinn muss ich zusammenfassend für das Canopy sagen: gefühlsmässig berührt haben mich in diesem Hotel „nur“ die meisten der Mitarbeiter.
Insidertipps:
Joggingstrecke: 200 m runter zum Tower of London, dann über die Tower Bridge, nach rechts abbiegen und Richtung London Eye laufen – mit Blick auf den Buckingham Palace. Unbedingt frühmorgens oder später abends, tagsüber verhindern Touristenmassen ein Durchkommen.
Museum: Das Tate Modern, mit der nüchtern-beeindruckenden Herzog/de Meuron-Architektur und moderner Kunst von Warhol bis Moore, ist immer noch das eindrucksvollste Museum in dieser an Kunststätten nicht armen Stadt. Abends kommen, dann ist es leerer (freitags/samstags geöffnet bis 22 Uhr). Alternative: die Serpentine Gallery in den Kensington Gardens.
Radtour: mit einem der kostenlosen orangenen Fahrräder des Canopy die Straßen des East Ends erkunden – voller Geschichte und moderner Straßenkunst.
Raths Reiserating:
1.Ausdrückliche Reisewarnung
2.Besser als unter der Brücke
3.SO LALA, NICHT OH, LÀ, LÀ
4.Meckern auf hohem Niveau
5.Wenn’s nur immer so wäre
6.Ganz großes Kino
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